Zeitenwende – Wende-Zeiten für Positionen?

Der Überfall Russlands auf die Ukraine wird von den Regierenden als eine „Zeitwende“ bezeichnet, die eine Aufgabe lange verfolgter Prinzipien und Positionen bundesdeutscher Politik erfordern würde. Aber was hat sich verändert? Viele große und kleine Kriege prägen das Bild des imperialistischen 20.Jahrhunderts auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Angriffskriege von Großmächten mit imperialen Ansprüchen ebenso wie Kriege zwischen Nachbarn oder Separationskriege zur Revision von Staatsgrenzen. Sie fanden auch in Europa statt. Russlands Angriff auf die Ukraine reiht sich nahtlos ein, in diese mörderische Linie, die sich in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts fortsetzte.

Gewendet wurden bisherige politische Grundpositionen. Als Konsequenz aus dem Unheil des Zweiten Weltkrieges war die bundesdeutsche Nachkriegspolitik per Grundgesetz auf eine friedliche Außenpolitik verpflichtet worden. Die Aufgabe des  Militärs wurde ausdrücklich auf die Landesverteidigung beschränkt. Dieser westdeutsche Verfassungskonsens begann schon in den frühen 1990er Jahre zu bröckeln. Das geeinte Deutschland müsse jetzt gemäß seiner neuen Größe und Stärke eine gewichtigere Rolle in der Weltpolitik übernehmen und auch als relevante Kraft des westlichen Militärbündnisses seine militärische Enthaltsamkeit bei internationalen Konflikten aufgeben. Joschka Fischer forderte, schon bevor er Außenminister wurde, die Grünen auf, die Zeitgemäßheit ihres Pazifismus zu überprüfen. Danach verantwortent er und seine Partei in der Regierung einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Nato mit deutscher Beteiligung in Europa.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat diesen seit vielen Jahren sich vollziehenden Positionswechsel im Mainstream der deutschen Politik beschleunigt. Er bedeutete keine Zeitenwende, sondern einen Katalysator für eine neuerliche Militär- und Kriegsbejahung in breiten Kreisen der deutschen Mittelschichten. Ich habe mich beim Studium der deutschen Geschichte gefragt, wie diese Kriegsbegeisterung vor dem Ersten Weltkrieg so weite Teile der deutschen Gesellschaft bis in die gebildeten bürgerlichen Kreise erfassen konnte. Jetzt erlebe ich es – sicher in anderer Form, aber dem Grund nach mit der gleichen Erzählung: Waffengang gegen das Böse, gegen die Feinde unserer Werte und unserer Freiheit. Braucht es erst die Ernüchterung durch eigenes, selbsterfahrendes Kriegsleid, um sich der bereits erkannten Wahrheiten über den vergiftenden tödlichen Geist des Krieges zu erinnern?

Der Krieg besteht nicht darum weiter, weil es Böses gibt, sondern weil man ihn immer noch für gut hält. (Bertha von Suttner)