Frieden schaffen ohne Waffen lautet die Überschrift des Berliner Appells, den der Kommunist Robert Havemann und der Pfarrer Rainer Eppelmann 1982 in der DDR verfassten. Er wurde zu einem Leitspruch der deutschen Friedensbewegung in Ost und West. Auf den ersten Blick schien der Appell naiv und weltfremd, aber beim Nachdenken war unschwer zu erkennen, dass dies der realistische Weg zum Frieden war und ist. Mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Blocks war die historische Chance gegeben, ein friedliches, abgerüstetes Haus Europa zu schaffen. Doch das westliche NATO-Bündnis verfolgte – nach kurzer „Verwirrung“ über den Wegfall des Feindes – ein anderes strategisches Ziel mit neuen Feinden.
Der Überfall Russlands auf die Ukraine wird von den Regierenden als eine „Zeitwende“ bezeichnet, die eine Aufgabe lange verfolgter Prinzipien und Positionen bundesdeutscher Politik erfordern würde. Aber was hat sich verändert? Viele große und kleine Kriege prägen das Bild des imperialistischen 20.Jahrhunderts auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Angriffskriege von Großmächten mit imperialen Ansprüchen ebenso wie Kriege zwischen Nachbarn oder Separationskriege zur Revision von Staatsgrenzen. Sie fanden auch in Europa statt. Russlands Angriff auf die Ukraine reiht sich nahtlos ein, in diese mörderische Linie, die sich in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts fortsetzte.
Gewendet wurden bisherige politische Grundpositionen. Als Konsequenz aus dem Unheil des Zweiten Weltkrieges war die bundesdeutsche Nachkriegspolitik per Grundgesetz auf eine friedliche Außenpolitik verpflichtet worden. Die Aufgabe des Militärs wurde ausdrücklich auf die Landesverteidigung beschränkt. Dieser westdeutsche Verfassungskonsens begann schon in den frühen 1990er Jahre zu bröckeln. Das geeinte Deutschland müsse jetzt gemäß seiner neuen Größe und Stärke eine gewichtigere Rolle in der Weltpolitik übernehmen und auch als relevante Kraft des westlichen Militärbündnisses seine militärische Enthaltsamkeit bei internationalen Konflikten aufgeben. Joschka Fischer forderte, schon bevor er Außenminister wurde, die Grünen auf, die Zeitgemäßheit ihres Pazifismus zu überprüfen. Danach verantwortent er und seine Partei in der Regierung einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Nato mit deutscher Beteiligung in Europa.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat diesen seit vielen Jahren sich vollziehenden Positionswechsel im Mainstream der deutschen Politik beschleunigt. Er bedeutete keine Zeitenwende, sondern einen Katalysator für eine neuerliche Militär- und Kriegsbejahung in breiten Kreisen der deutschen Mittelschichten. Ich habe mich beim Studium der deutschen Geschichte gefragt, wie diese Kriegsbegeisterung vor dem Ersten Weltkrieg so weite Teile der deutschen Gesellschaft bis in die gebildeten bürgerlichen Kreise erfassen konnte. Jetzt erlebe ich es – sicher in anderer Form, aber dem Grund nach mit der gleichen Erzählung: Waffengang gegen das Böse, gegen die Feinde unserer Werte und unserer Freiheit. Braucht es erst die Ernüchterung durch eigenes, selbsterfahrendes Kriegsleid, um sich der bereits erkannten Wahrheiten über den vergiftenden tödlichen Geist des Krieges zu erinnern?
Der Krieg besteht nicht darum weiter, weil es Böses gibt, sondern weil man ihn immer noch für gut hält. (Bertha von Suttner)
Aufrüstung ist der Weg in den Krieg, nur Abrüstung kann zum Frieden führen. Si vis pacem para bellum ist die Weltsicht der Machtpolitiker und Militärs. Sie hat sich in der Menschheitsgeschichte immer wieder als falsch erwiesen. Die Völker mussten das daraus resultierende Leid ertragen, die Staatslenker und Generäle selten. Die Behauptung, dass Hochrüstung den Frieden bewahre, wurde vor allen großen Kriegen den Völkern als Erzählung aufgetischt, um ihnen die Rüstungslasten aufzubürden und die Bereitschaft zu wecken, in den Todeskampf zu ziehen. Aber zeigt nicht der Zweite Weltkrieg, dass man führ Frieden auch Krieg führen müsse? Nein, es gab andere Wege. Auch dieser Krieg hatte eine Vorgeschichte, die ihn ermöglichte. Hätten die Westmächte entschlossen die Aufrüstung Deutschlands gemäß dem Versailler Friedensvertrag unterbunden, wäre Deutschland nicht in der Lage gewesen, diesen mörderischen Angriffskrieg zu führen. Hätten die Westmächte nicht versucht, Deutschlands Expansionsdrang zu befriedigen, um ihn zugleich gegen Osten zu lenken, wäre Europa dieser Vernichtungskrieg erspart geblieben. Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Eine imperialistische und nationalistische Politik gebiert Krieg.
Die deutschen Kriegsbefürworter rufen heute zum Kämpfen (und Sterben) in der Ukraine für „unsere heiligen Werte“ auf. Kämpfen sollen aber die anderen. Sie wollen persönlich weder kämpfen (und sterben) noch ihre Häuser und Städte verwüsten. Wer den Krieg in der Ferne gutheißt, holt ihn sich ins Heim.
»Krieg folgt auf Krieg und Mord auf Mord, Unrecht auf Unrecht und Rache auf Rache, und immer gibt es große und heilige Namen dafür, immer wird das Vaterland gerettet oder die Gerechtigkeit oder die Freiheit oder die Menschheit – und immer sind es die Unschuldigen, die bezahlen müssen.« (Remarque)
Wenn Pazifisten, „Friedensfreunde“, Menschen, die der Kriegslogik widersprechen und sagen, dass der Frieden nicht mit Waffen zu erzwingen ist, dass zum Frieden der Weg des des Verhandelns und der Verständigung führt, werden sie von den „Kriegsbefürwortern“ beschimpft und diffamiert. Beachte: Wo man Pazifisten und „Friedensfreunde“ diffamiert, sie als „Lumpenpazifisten“, „Kapitulanten“, „Secondhand-Kriegsverbrecher“, Agenten und Handlanger Putins herabwürdigt, wird ideologisch zum kommenden Krieg gerüstet. Das war in Deutschland vor den beiden großen Weltkriegen genau so der Fall. Der Pazifist Carl von Ossietzky wurde vom Reichsgericht der Weimarer Republik 1931 zu eineinhalb Jahren Gefängnis wegen Landesverrats verurteilt. Die Nazis haben ihn sofort ohne Prozess eingesperrt.
„Da lesen wir in der demokratischen Presse etwas von der ‚Gefährdung des Wehrgedankens‘. Aber wir wollen ihn so gefährden, dass ihm die Luft ausgeht, und wir pfeifen auf jenen ‚gesunden Pazifismus‘, der die Heere aufbaut und erweitert, der den Massenmord präpariert, der sein Land ins Unglück stürzt und der ebenso verbrecherisch ist wie das, was er vorbereitet.“ (Tucholsky 1928)
Bedingungsloser Waffenstillstand und ein Frieden ohne Annexionen und Kontributionen forderten die linke Sozialdemokratie in Deutschland 1916/1917 als Ausweg aus dem Massenmorden. Während andere politische Kräfte auf einen Siegfrieden pochten, weil doch ansonsten die Millionen Toten und die Verwüstungen der kriegführenden Länder völlig umsonst, völlig sinnlos gewesen wären.
Im russisch-ukrainischen Krieg muss es so schnell als möglich einen Waffenstillstand ohne Vorbedingungen geben, damit das Sterben und die Zerstörungen ein Ende haben. Dann beginnt der lange Weg zu einem nachhaltigen Friedensschluss, der sicher vertrauensbildende Etappen braucht. Ziel ist ein Frieden ohne Annexionen. Dieser ist einzubetten in eine dauerhafte Friedensordnung in Europa unter Einschluss von Russland.
Illusionär, da mache doch die Putin-Regierung niemals mit, wird sofort eingewandt. Ein solcher Friedensprozess wird ein langer Weg sein. Heute scheint es undenkbar, dass die russische Regierung auf annektierte Gebiete verzichtet und die Souveränität der Ukraine anerkennt und dass die ukrainische Regierung einen Waffenstillstand ohne sofortigen Rückzug der russischen Truppen aus allen besetzten Gebieten akzeptiert. Aber ein solcher Frieden ist erreichbar, wenn man sich dafür geduldig und umsichtig engagiert. Wer den Gegner/Feind für friedensunfähig und zum Bösen an sich erklärt, der will keinen Frieden.
Die überfallene Ukraine hat Anspruch auf Hilfe. Die wirksamste Hilfe ist ein Beitrag zur Beendigung des Krieges und die Eröffnung eines Weges zu einem dauerhaften Frieden. Das schließt Waffenhilfe zur Abwehr des Aggressors nicht aus. Diese darf aber den Weg zum Ende des Krieges nicht blockieren und das Sterben und die Zerstörung nicht verlängern. Heute reden die verantwortlichen deutschen Politiker nur über Waffenhilfe. Dabei ist Hilfe zum Frieden das absolute Gebot der Stunde. Frieden wird nicht durch Waffen geschaffen. Frieden schaffen ohne Waffen, das ist die Herausforderung an die Kunst und Kraft der Politik.
Kriege fallen nicht vom Himmel. Sie haben immer eine politische Vorgeschichte, so auch der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Sie in den Blick zu nehmen, ist für das Verstehen der Ursachen dieses Krieges erforderlich, ändert aber nichts an der Schuld des Angreifers. Soziale und politische Ursachen erzeugen keinen linearen alternativen Handlungszwang für die geschichtlichen Akteure. Russland hat in einer geopolitischen Auseinandersetzung mit den USA und ihren Verbündeten um die machtpolitische Dominanz in Osteuropa, das Russland als sein Einflussgebiet betrachtet, in eigener Verantwortung zu den Mittel des Angriffskrieges gegriffen. Tatsache ist, dass die USA mit vielerlei Mittel und Methoden seit den 1990er Jahren bestrebt war, den russischen Einfluss zurückzudrängen und Russland vom restlichen Teil Europas zu isolieren. Diese geopolitische Strategie kann man mit guten Gründen als verfehlt kritisieren. Sie war nicht geeignet den Frieden in der Region zu befördern, sondern riskierte eine Eskalationsspirale. Denn die russische Regierung hat nicht erst 2022 zu militärischen Mitteln gegriffen, um den von ihm beanspruchten Machtbereich für sich zu „sichern“. Der US-Regierung ist solch eine imperiale Machtpolitik mit militärischen Interventionen nicht fremd. Sie gehört auch in ihr geopolitisches Arsenal. – Aber zum Mittel des Angriffskrieges hat nicht die NATO gegriffen. Sie hat auch keinen Krieg gegen Russland vorbereitet. Russland hat nach der Besetzung der Krim und nach der militärischen Unterstützung der Separatisten im Donbass den Angriffskrieg gegen die Ukraine geplant, offen angedroht und letztlich begonnen. Das war die alleinige Entscheidung der russischen Regierung, für die sie nicht die „miese“ Politik der USA und der NATO verantwortlich machen kann. Wer seine vermeintlich berechtigten Ziele mit politischen, wirtschaftlichen oder ideologischen Mitteln nicht erreicht, kann daraus kein Recht zum Angriffskrieg ableiten. Dieser ist sowohl rechtswidrig wie auch Unrecht.
Vorgeschichte und der Ausweg aus dem Krieg
Die Vorgeschichte des Krieges mindert nicht die Verantwortung der russischen Regierung, aber sie zu betrachten, ist erforderlich, um einen Weg zu seiner Beendigung zu finden. Sie ist notwendig für den langen Weg zu einem stabilen Frieden. Dafür ist das Eingestehen des Versagens der geopolitischen Strategie der USA und der NATO, die das Risiko, dass die Ukraine zum Schlachtfeld wird, nicht mit der erforderlichen Sorgfalt beachtet hat, von großer Bedeutung.
Ukraine führt kein „Stellvertreterkrieg“
Trotz dieser geopolitischen Konfrontationsgeschichte führt die Ukraine keinen „Stellvertreterkrieg“ für die USA und den Westen, wie das nicht nur russische Politiker*innen behaupten, sondern auch Politiker*innen aus Deutschland und anderen NATO-Ländern suggerieren. Die Ukraine kämpft nicht für die „Interessen des Westens“ in diesem Krieg, sondern kämpft für ihre staatliche Unabhängigkeit und den Erhalt ihres Selbstbestimmungsrechts.
Wenn ukrainische Politiker*innen das falsche Narrativ vom „Stellvertreterkrieg“ für das westliche Europa bemühen, dient es der Mobilisierung der umfassenden finanziellen und militärischen Unterstützung durch die NATO-Länder. Wenn deutsche Politiker*innen es benutzen, wollen sie damit die Bereitschaft der Bevölkerung festigen, die Lasten dieser Unterstützung zu tragen.